„Ist doch nichts passiert“ - über das Negieren von Gefühlen

Es ist eine Situation, die wohl alle von uns kennen werden. Ein Kind läuft, stolpert und fällt hin. Es hält sich vielleicht das Knie oder den Arm und weint. Ein Erwachsener eilt zu diesem Kind, hilft ihm auf die Beine, hilft vielleicht den Schmutz von Kleidung und Körper abzuklopfen und spricht den bekannten Satz: „Du kannst aufhören zu weinen, es ist doch nichts passiert!“ oder eine Abwandlung dieses Satzes: „Steh auf, es ist ja nichts passiert!“ oder „Du musst nicht weinen“. Warum trauen wir unseren Kindern nicht zu zu wissen, wann sie weinen müssen oder zu wissen, ob etwas passiert ist oder nicht?
Den Gefühlen misstrauen
Erstens liegt hier oftmals ein Irrtum zugrunde, nämlich, dass das Kind nur deshalb weint, weil es sich verletzt hat. Als Elternteil kontrolliert man die Unversehrtheit des Körpers, merkt, dass der Sturz keine zu versorgende Wunde hinterlassen hat und somit ist aus Sicht der meisten Erwachsenen „nichts passiert“.
Zweitens basiert diese Aussage auf der Annahme, dass Kinder aus einem kleinen Missgeschick ein Drama machen würden, würde man sie nicht darauf hinweisen, dass man aufstehen und weitermachen könne, wenn man einmal gefallen ist. Eigentlich ist dies ja durchaus positiv gemeint und soll eine gewisse Lebenshaltung vermitteln. Beim Kind kommt aber oftmals eine andere Botschaft an, nämlich: „Du kannst nicht wissen, ob es schlimm ist oder nicht, deshalb sage ich dir, dass es nicht schlimm war und du weitermachen kannst.“ - Kinder fangen an ihren Gefühlen zu misstrauen – ihnen war danach zu weinen, was ja scheinbar falsch ist.
Wie sieht diese Szene aus der Perspektive des Kindes aus?
Das Kind hat vielleicht gerade eine Spielidee und möchte sich so rasch wie möglich auf den Weg machen, um diese Idee umzusetzen. Der Kopf ist voller Gedanken und die Vorfreude riesig groß. Das Kind entscheidet sich, den Weg besser zu laufen, um keine Zeit zu verlieren. In der Eile übersieht das Kind vielleicht einen Gegenstand oder stolpert „über die eigenen Füße“. Es wird durch den Sturz aus den Gedanken gerissen, es versucht sich aufzufangen, landet am Knie oder am Arm. Es spürt den Schmerz aufflammen, es spürt die Enttäuschung aufsteigen, weil es jetzt auf sein Spiel warten muss oder es fühlt die Angst, dass es vielleicht eine Spielidee vergisst. Es ist vielleicht verärgert oder wütend, weil es in letzter Zeit öfters gestolpert ist, usw.
Es hält sich darauf hin das Knie oder den Arm und weint.
Aus der Sicht des Kindes ist diese Szene viel komplexer, als das, was wir als Beobachter meinen gesehen zu haben. Das Weinen gilt vielleicht nicht (nur) dem Knie oder dem Arm. Es weint auch über das verschobene Spiel, über seine Ungeschicklichkeit, muss seine Angst und Sorge zum Ausdruck bringen. Für das Kind ist nicht „nichts“ passiert, nur weil es keine körperliche Wunde davongetragen hat!
Wie nimmt das Kind nun die Reaktion des Erwachsenen wahr?
Das weinen ruft den Beobachter auf den Plan, meist eilt ein Erwachsener zu einem Kind, das gefallen ist. Das Kind sieht nun, dass jemand in Eile auf es zuläuft und seine Position verändert (ihm aufhilft). Das erweckt eher den Eindruck, als müsse es schlimm gewesen sein. Meine Mama oder mein Papa gehen davon aus, dass ich selbst nicht mehr in die Höhe komme und es musste mir in aller Eile, also in größter Not geholfen werden. Kinder sind dann oft durch diese Umstände noch mehr im Schock und dann hören sie: „Hör auf zu weinen, es ist ja nichts passiert!“
Dieser Satz steht im absoluten Widerspruch zu dem, was das Kind gerade am eigenen Leib erfahren hat – sowohl als es gefallen ist hat es etwas anderes verspürt, als auch in der Situation, in der der Erwachsene zur Hilfe eilt. Das führt dazu, dass Kinder, die häufig solche Situationen erleben anfangen, ihren Gefühlen und Wahrnehmungen zu misstrauen.
Alternative Reaktionen
Wie kann anders auf solche alltäglichen Szenen reagiert werden? Diese Vorschläge sind jedoch nur dann anzuwenden, wenn keine sichtbare Notsituation (z.B. eine schwere Verletzung) vorliegt!
1. Warten Sie einen kleinen Moment ab.
Das Kind, das gefallen ist muss erst seine Lage begreifen können, muss selbst herausfinden, ob ihm etwas geschehen ist, ob es Hilfe braucht und muss vielleicht seinem Ärger über das Missgeschick Luft machen.
2. Nähern Sie sich zügig, aber nicht aufgebracht oder panisch dem Kind.
Die Eile oder Panik bewirkt, dass das Kind den Eindruck gewinnt, sich in einer Notsituation zu befinden. Strahlen Sie Ruhe aus, wirkt das auch auf das Kind.
3. Sprechen Sie das Kind ruhig an. Stellen Sie mehr Fragen als Feststellungen zu äußern.
Fragen Sie das Kind, ob es Hilfe möchte oder braucht. Sie können auch Fragen, ob „es geht“ oder ob dem Kind etwas weh tut. Diesen Reaktionen ist gemeinsam, dass sie ergebnisoffen sind, das Kind also die Wahl hat Hilfe zu benötigen oder nicht; etwas als Schmerz zu empfinden oder nicht.
4. Versuchen Sie nicht das Weinen zu beenden.
Nur das Kind weiß, wann es sein Gefühl „fertig“ zum Ausdruck gebracht hat. Bleiben Sie beim Kind um ihm damit zu zeigen, dass Sie es mit seinem Gefühl annehmen.
Den Blick nach vorne richten
Beachten Sie diese 4 Aspekte, dann werden Sie vielleicht erstaunt sein, wie oft Kinder, auch wenn sie vielleicht in dem Moment schrecklich aufschreien oder sichtlich verärgert sind, sich nach einem Moment aufrichten und weiterlaufen.
Das betrifft nun nicht nur Szenen, in denen es um körperliche Missgeschicke geht, sondern auch wenn der Bausteinturm umfällt, eine schön aufgestellte Reihe Dominosteine in Unordnung gerät, das beliebte Spielzeug am Spielplatz besetzt ist, usw. Oftmals reicht es den Kindern, dass sie ihren Unmut äußern konnten, dass jemand da war, der sie mit diesem Gefühl angenommen hat und schon können sie den Blick wieder nach vorne richten und Lösungen suchen.
Foto: U.S. Fotografie CC BY-ND 2.0
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