Bedingungslose Liebe – auch wenn die Tapete bemalt oder der Autolack zerkratzt ist

Im ersten Moment hört es sich nach einer Selbstverständlichkeit an: „Lieben Sie Ihr Kind bedingungslos“. Im Alltag gibt es immer wieder Momente, die uns so herausfordern, dass dieses Gefühl der bedingungslosen Liebe ins Wanken geraten kann – die einen wünschen sich ein braves Kind, die nächsten fänden es toll, wenn ihr Kind mutiger wäre, wieder andere schrecken sich vor der Aggressivität ihres Kindes, usw.
Jedes Kind ist eine Persönlichkeit. Im Zusammenleben mit ihm lernen wir das Kind jeden Tag ein wenig besser kennen und entdecken auch immer wieder neue Charakterzüge oder Eigenheiten. Es kann somit auch vorkommen, dass das eigene Kind Verhalten an den Tag legt, das uns so gar nicht zusagt, mit dem wir Probleme haben, das uns mit eigenen Schwächen konfrontiert…Wie kann man dieses Kind dann noch bedingungslos lieben?
Bedingungslose Liebe und Bindung
Das Zusammenleben mit anderen stellt uns immer wieder vor Herausforderungen, das gilt auch für die Erziehung unserer Kinder. Babys gehen mit ihren Bezugspersonen Bindungen ein. Diese können, vereinfacht gesagt, sicher, unsicher oder ambivalent sein. Eine sichere Bindung ist für ein Baby oder später auch für ein Kind eine Vertrauensbasis, ein Gefühl, dass die Welt gut ist. Aber eine sichere Bindung hat nicht nur positive Effekte auf das Kind, sondern ist auch wichtig für die Eltern. Eine sichere Bindung zum Kind hilft uns, schwierige Momente zu meistern. Durch sie haben wir ein grundlegendes Vertrauen in unser Kind, sind feinfühliger und schaffen es leichter von den Handlungen oder dem Verhalten des Kindes abzusehen und das Kind an sich wahrzunehmen. Wie ist das zu verstehen?
Was ist bedingungslose Liebe?
Bedingungslose Liebe meint, das Kind zu lieben, unabhängig davon was es gerade macht oder sagt. Zugegeben, wenn es gerade die Tapete bemalt oder den Lack des neuen Autos zerkratzt, dann kann einem das schon mal schwer fallen. Besteht zwischen Bezugsperson und Kind eine sichere Bindung, dann ermöglicht diese, von der Handlung Abstand zu nehmen und die Absicht des Kindes zu erkennen. Vielleicht hat Ihr Kind mitbekommen, dass Sie überlegen die Wände neu zu streichen, weil Ihnen die alte Tapete nicht mehr gefällt? Ihr Kind wollte Ihnen mit seiner Aktion einen Gefallen erweisen. Oder Ihr Kind malt gerade gerne und sieht, dass Sie seine Zeichnungen immer an die Wand hängen. Es hat sich dazu entschlossen, einfach direkt dort zu malen.
Beim Beispiel mit dem Auto könnte es die kindliche Neugierde sein: Was geschieht, wenn man mit dem Schlüssel die Autotüre entlang fährt? Nachdem es gesehen und gehört hat, dass es dort wirkungsvoll ist (man sieht seine Bewegungen und hört das Kratzen auf dem Metall), war es ganz versunken im Spiel und dachte möglicherweise gar nicht mehr an die Konsequenz, dass das Auto davon Schaden nimmt. Je nach Alter des Kindes kann es diese Konsequenz (in vollem Umfang) noch gar nicht als solche erkennen.
Denken Sie jetzt bitte nicht, dass ich die hier beschriebenen Aktionen gut heiße oder mich freuen würde, wenn meine Kinder dies machen. Das Kind muss schon erfahren, dass es in Zukunft solche Handlungen unterlassen solle. Aber es kommt auf die Art und Weise an, wie das Kind darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass das Verhalten oder die Tat nicht erwünscht ist. Das Kind muss sich sicher sein können, dass die Beziehung zu den Eltern bestehen bleibt, es immer noch geliebt wird. Die Botschaft lautet: „Du bist okay so wie du bist“. Erfährt das Kind, dass es als Person weiterhin geliebt wird, wird es auch in Zukunft Missgeschicke und Probleme offen besprechen und nicht, aus Angst vor Strafe und Liebesentzug, versuchen seine Taten zu verstecken. Die Beziehung zum Kind kann so vertieft werden. Kinder entwickeln auch ein Unrechtsbewusstsein und sind oft traurig, wenn sie sehen, welche Konsequenz ihre Handlung hatte. Gerade in diesen Momenten brauchen sie Zuspruch, müssen mit ihren Gefühlen angenommen werden und nicht noch fürchten müssen, nicht mehr geliebt zu werden.
Wie kommt es zu einer sicheren Bindung?
Entscheidend sind dabei schon die ersten Minuten nach der Geburt (wobei zu sagen ist, dass neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass bereits Schwangerschaftsverlauf und Geburt wesentlich zum Bindungsverhalten beitragen). Das Baby muss in der Welt ankommen, es muss Willkommen geheißen werden. Das gelingt über Hautkontakt. Das Baby sollte, wie es glücklicherweise schon fast überall Praxis ist, direkt nach der Geburt (im besten Fall noch an der Nabelschnur) auf den nackten Bauch der Mutter gelegt werden. Diese ersten Momente sind bereits der Grundstein für sichere Bindung. Überhaupt sollte das Neugeborene nur in Notfällen von der Mutter getrennt werden. Denken Sie auch daran, dass Sie als Gebärende Rechte haben. Es ist Ihr Kind!
Die ersten Minuten und Tage mit dem Baby sind sehr entscheidend, aber das heißt nicht, dass ein (warum auch immer) missglückter Start, nicht wieder „eingeholt“ werden kann. Bindung ist etwas das wächst – und zwar ein Leben lang. In tausenden kleinen Momenten wird die Bindungserfahrung geprüft, angepasst und vertieft. Bindung ist nicht statisch, auch eine sichere Bindung muss immer wieder gefestigt, also durch Beziehungserfahrungen bestätigt, werden.
Die Rolle des Vaters
Liest man über Bindung, dann ist oft die Mutter-Kind-Konstellation gemeint. Das Baby (und später das Kind) kann aber nicht nur ein Bindungsmuster aufbauen. Bindungen sind zu unterschiedlichen Bezugspersonen möglich und die Bindung kann sich von Bezugsperson zu Bezugsperson unterscheiden. In vielen Familien ist der Vater auch viel präsenter als zu der Zeit, als die Bindungstheorie ihren Anfang nahm (die Anfänge der Bindungstheorie liegen in den 1940er Jahren!). Gegenwärtig wird auch zunehmend die Bedeutung des Vaters beleuchtet und betont, dass Kinder von vielfältigen Bindungserfahrungen profitieren.
Bindung und Neugierverhalten
Ist eine sichere Bindung keine Einschränkung für das Kind? Ist es dann nicht vielleicht überbehütet oder verwöhnt?
Die Angst vor Überbehütung (Stichwort Helikopter-Eltern) und Verwöhnung (Stichwort Tyrann) ist gegenwärtig vermehrt zu spüren. Um nicht zu weit abzuschweifen, kommentiere ich das, in diesem Beitrag, nicht weiter. Sichere Bindung hat damit jedoch nichts zu tun. Ein Kind, das sich sicher sein kann geliebt zu werden und immer zu den Eltern kommen zu können, egal was geschehen ist, wird die Welt für sich entdecken. Es wird selbstbewusst Erkundungstouren machen (die mit zunehmendem Alter länger und weiter ausfallen), Dinge ausprobieren wollen und nach und nach Selbstständig werden. Bindung und Neugierverhalten sind eng verknüpft. Auch wenn es zunächst abwegig klingt: eine anfangs enge Bindung, führt zu Selbstständigkeit. Kinder, die früh auf sich alleine gestellt waren, deren Bedürfnisse (nicht Wünsche!) nicht umgehend befriedigt wurden, sind Menschen, die oftmals unsicher sind und die sich nicht trauen ihre Eltern aus den Augen zu lassen. Es fehlt das Vertrauen, dass die Eltern immer für sie da sind, es besteht die Angst, dass wenn ich sie einmal loslasse, dass ich nicht mehr zu ihnen kommen kann. Sicher gebundene, bedingungslos geliebte Kinder können loslassen und wiederkehren – auch wenn sie einmal die Tapete bemalt oder den Autolack zerkratzt haben.
Foto: Praveen Kumar CC BY 2.0
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